Mit der Klasse 6a im Landheim. Wie immer will ich im Landheim meinen Schülern näher kommen, eine pädagogische Beziehung aufbauen, die die nächsten Wochen erträglich macht. Nach einigen Gesprächen, bei denen ich durch Zuhören ohne Wahrnehmung energiesparend Aufmerksamkeit simuliere, kommt Torben auf micht zu. Mit meiner Standardfrage eröffne ich das Gepräch: „Was hast du denn am Wochenende gemacht?“. Die Antwort führt meine Wahrnehmung aus der Dämmerung. Torben war am Wochenende in Hamburg, seine Cousine hatte Firmung. Auf der Heimreise durfte er im Familien-Helikopter Copilot sein. Mir wird sofort klar, für eine erfolgreiche Landheimwoche muss ein echtes Event her. Meine Kollegin und ich entscheiden uns für Minigolf. Die Anlage liegt 5 Minuten Gehweg vom Landheim entfernt. Überzeugungsarbeit müssen wir nicht leisten, es war eine Wanderung geplant (3 Stunden Gehweg).
Voll pädagogischer Energie erreichen wir den Golfplatz, die Klasse im Schlepptau. Die Schüler werden beauftragt, die Anlage zu besichtigen und die Regeln auswendig zu lernen. Eine sinnvolle Aufgabe und Regeln verhindern Konfliktsituationen und damit die Verletzungsgefahr. Sicherheit geht uns Lehrern eben über alles. Wir dagegen machen uns auf, Golfschläger, Bälle und Punktelisten im nahegelegenen Hotel zu besorgen. Vorauspreschend verlangt meine Kollegin vom Fräulein an der Rezeption 30 Schläger, 30 Bälle und die Punktelisten. Mein Risikobarometer schießt nach oben. Ich muss eingreifen. Jeder Schüler ein Schläger und wir hätten ein Gemetzel auf der Kleingolfbahn. Von den Bällen scheint mir noch keine Gefahr auszugehen. Ich sollte mich täuschen.
Tellerlau, es regnet, die Kleingolfbahn ist glitschig. Trotz suboptimaler Bedingungen machen die Kinder einen begeisterten Eindruck. Ich kann es nicht fassen, welche Suggestivwirkung von diesem Spiel ausgeht. Alles ist perfekt. Aus den Augenwinkeln beobachte ich, wie Bengt um das grüne Fangtuch von Anlage 18 herumschleicht, die dazu gemacht ist, den Ball über eine Rampe in ein aufrecht stehendes Keschernetz zu spielen. Bei Fehlschlägen beendet das Tuch den Flugversuch des Balles. Eigentlich eine sichere Sache, wenn auch nicht besonders spannend. Trotzdem ist Bengt immer noch mit seiner Untersuchung beschäftigt. Nichts Gutes ahnend, nehme ich ihn ins Visier. Das Loch im Fangtuch hat die Größe eines Golfballes. Ich bemerke es erst, als sich Bengts Kopf zum Loch bewegt. Zu klein, denke ich, keine Gefahr. Da kommt der Aufschrei. Der Versuch durchzuschauen, wird hart bestraft. Das Unmögliche geschieht, der Ball presst sich durch die Öffnung und reist eine Schneise in die Augenbraue von Bengt, die umgehend in Rot eine Verletzung signalisiert. Abbrechen, denke ich, die Kinderaugen wollen etwas anderes. Was solls, sowas passiert im Leben nur einmal. Manchmal wird das Unmögliche eben wahr. Hätte ich doch auf meine erste Eingebung gehört.
Im Sekundentakt fliegen die Bälle in Richtung Loch, wobei sie es mit der Richtung nicht so genau nehmen. Golf ist eben eine Präzisionssportart. Zeit für einen Kaffee. Ich melde mich ab und suche das Hotel auf, um mittels Coffein die Geister der Nachtwache zu vertreiben. Bei meiner Rückkehr lässt die Haufenbildung in der Spielfeldmitte nichts Gutes erahnen. Annemarie weint. Das Blut in ihrem Mundwinkel folgt der Schwerkraft. Meine Kollegin ist bereits dabei, die Spuren der Verletzung zu beseitigen. Ich schicke Lukas und Jörn ins Hotel. Sie sollen Eis holen. Eine Vernehmung von Annemarie ist nicht möglich, der Schock sitz tief. Der Klassenrest hat wie immer nichts gesehen.
„Ein Weiterspielen ist nur möglich, wenn ich weiß, wie das passiert ist“, starte ich einen Erpressungsversuch. Nicht unbedingt pädagogisch, aber mit schneller Wirkung. „Annemarie wollte nur mal schauen, ob Christin den Ball trifft“, bricht Bengt das Schweigen. Gott sei dank, keine Absicht und damit keine wochenlange Verhaltenstherapie beim Vertrauenslehrer. Warum Annemarie dies im Schlägerradius machen musste, will ich gar nicht wissen. Ein Blick auf die obere Reihe exakt platzierter Zähne (An dieser Stelle Dank allen Kieferorthopäden!) zeigt keine Lücken, die Fleischwunde an der Oberlippe wird schnell heilen.
Ein Weiterspielen ist bei einer Verletzungsrate von 2 Schülern pro Stunde für uns nicht mehr möglich. Das Risiko ist zu groß, wer weiß, was noch passiert. Wir brechen das Turnier ab und ernten dafür völliges Unverständnis. „Bei dieser Menge von Verletzungen“, erkläre ich den Kindern, „muss eine schriftliche Genehmigung der Eltern vorliegen, denn jetzt handelt es sich bei Minigolf um eine Risikosportart.“ Die nonverbale Analyse ist eindeutig, sie glauben mir nicht.
Eins ist auf alle Fälle klar, Helikopter fliegen ist sicherer und Golfschläger aus Plaste mit einem Schlägerkopf aus Schaumstoff sind empfehlenswert.
Nachtrag: Eigentlich gab es noch einen dritten Unfall. Tim hat ebenfalls einen Ball vor den Kopf bekommen. Aber, wenn ich das hier aufschreibe, bekomme ich Ärger mit der Schulaufsicht.